Leseprobe | Wenn er tanzen will

aus der Anthologie: Sein schönster Sommer

Zum Inhalt: Im Sommer 1996 läuft Paul auf einem Festival Kai über den Weg. Die zwei fühlen sich sehr verbunden und werden enge Freunde. Im Laufe des Sommers treffen sie immer wieder aufeinander und Paul merkt recht schnell, dass er sich mehr als nur Freundschaft wünscht. Aber sieht Kai das genauso?

Leseprobe: Die Wiese, auf der wir campen, liegt an einem idyllischen See, umgeben von Bergen. Auf dem Wasser spiegeln sich die Sonnenstrahlen, wie kleine Kristalle scheinen sie auf der Oberfläche zu tanzen. Es ist herrlich warm und in der Ferne sind einige Boote auszumachen. Ich kann es kaum erwarten, ins kühle Nass einzutauchen. Wir bilden anscheinend das Schlusslicht in der Runde, die anderen haben schon ausgepackt und aufgebaut. In einem losen Kreis stehen die Zelte zusammen. Es ist eine große Clique, insgesamt fünfzehn Leute. Seine Freunde sind total nett. Es wird viel gelacht und ich fühle mich willkommen.
»Wo ist denn dein Zelt?«, fragt Kai, als wir die Sachen aus dem Auto laden und er außer unseren Rucksäcken nichts entdecken kann. Verwirrt sehe ich ihn an. »Hätte ich es mitnehmen sollen?« »Das haben wir doch am Telefon ausgemacht. Ich hab keins, wir wollten uns wieder deins teilen.«
»Äh nein, ich glaube nicht, dass wir darüber gesprochen haben.« Das ist peinlich. Ich kann mich an nichts erinnern.
»Echt nicht? Ich hätte schwören können ... Egal, dann schlafen wir eben am Seeufer und wenn’s regnet im Auto.«
Die Situation ist zu komisch und wir fangen an zu lachen.
Am Nachmittag leihen wir uns ein Schlauchboot von einem seiner Kumpel und fahren auf den See hinaus. Immer wieder lasse ich meine Finger durchs kühle Nass gleiten. Es ist wunderschön klar, aber eiskalt. In der Mitte, wo das Wasser ganz dunkelgrün wirkt und man den Grund nicht mehr sehen kann, beschließen wir reinzuspringen.
»Auf drei«, sagt Kai und zählt los. Es kostet mich einige Überwindung, aber vor Kai möchte ich mir keine Blöße geben. Kaum komme ich an die Oberfläche, zittere ich, es ist kälter als befürchtet. »Scheiße, das ist echt saukalt«, schimpft er los. Wir planschen wie verrückt herum, bis uns einigermaßen warm wird. »Lass uns um die Wette schwimmen, dann wird uns richtig warm«, schlage ich vor.
Amüsiert schaut Kai mich an. »Du hast keine Chance.«
»Das werden wir sehen.« Ich bin zwar kleiner als er, aber zäh und schnell. »Los geht’s!«
Kopf an Kopf kraulen wir um die Wette. Beinahe gleichzeitig geht uns die Kraft aus. Es entsteht eine wilde Wasserschlacht, weil wir uns nicht einigen können, wer gewonnen hat. Wir tauchen uns gegenseitig unter und ich schlucke immer wieder Wasser vor lauter Lachen. Nach dem Schwimmen liegen wir auf dem Steg, genießen die warmen Holzplanken unter uns und die Sonnenstrahlen, die unsere Rücken trocknen.
»Es ist unglaublich, wie gut wir uns verstehen«, sagt Kai aus dem Nichts heraus und spricht mir damit aus der Seele. »So perfekt wie mit dir, ist es mit meiner Freundin nie.«
Mein Ruhepuls verabschiedet sich.
»Wie meinst du das?«, hake ich nach.
»Irgendwie läuft es nicht zwischen uns. Ich glaube, ich mache mit ihr Schluss, wenn das Wochenende vorbei ist.«
»Oh, okay. Ist sicherlich besser.« Er ist bald Single? Vielleicht sollte ich mutiger sein. Er liegt auf dem Bauch, seinen Kopf hat er auf seine verschränkten Arme gebettet und seine Augen sind geschlossen. Wassertropfen laufen über seinen Nacken den Hals hinunter. Vorsichtig streiche ich mit meinem Zeigefinger darüber. Sein nasses Haar kringelt sich zu Locken und fühlt sich unglaublich weich an. Die kurze Berührung weckt eine Sehnsucht in mir, wie ich sie nie gespürt habe. So gern würde ich jetzt genau auf diese Stelle meine Lippen pressen. Ich beschließe in diesem Moment, ihm reinen Wein über mich einzuschenken. »Ich bin ...«, setze ich an.
Er schaut auf und ich ziehe meine Hand zurück. Auf einmal sind da nur noch seine dunklen braunen Augen, die mich unergründlich anschauen und ich verliere den Mut, genauso schnell, wie er gekommen ist. Das, was wir haben, ist zu kostbar. Ich kann es nicht durch das Geständnis, dass ich schwul bin, aufs Spiel setzen. »Ich bin ... froh, dass wir so gute Freunde sind.«
»Ich auch. Ist schon super, dass wir nicht diesen ganzen Beziehungsmüll zwischen uns haben.« Es sticht. Ich wünsche mir so viel mehr. »Komm, lass uns noch eine Runde schwimmen.« Er springt auf und ich folge ihm ziemlich enttäuscht ins Wasser.

Abends sitzen wir mit seinen Freunden am Lagerfeuer. Irgendwann, als das Feuer heruntergebrannt ist, verschwinden sie in ihre Zelte, einer nach dem anderen. In stiller Übereinkunft holen wir unsere Schlafsäcke und Isomatten aus dem Auto und legen uns nebeneinander auf den Kiesstrand. Die zirpenden Grillen und das sachte Geräusch der Wellen, die ans Ufer schlagen, sind sehr beruhigend. Über uns breiten sich Millionen Sterne am Himmelszelt aus. Klein und nichtig komme ich mir im Angesicht dieser Unendlichkeit vor. Erst durch Kai an meiner Seite bekomme ich Bedeutung, weil ich ihm wichtig bin und er mir. Er liegt mit dem Gesicht zu mir, ganz nah, sodass ich seinen Atem zart auf meiner Wange spüre. Ich bin so glücklich und möchte diesen friedlichen Moment einfangen und festhalten. Ewig kann ich nicht einschlafen, beobachte ihn im Mondlicht, bis auch mir endlich die Augen zufallen.
Ich werde durch ein Donnergrollen geweckt. Der Sternenhimmel ist verschwunden. Es ist pechschwarz. Plötzlich wird der Himmel von einem Blitz erhellt. Kai setzt sich zeitgleich neben mir auf und sieht besorgt nach oben. »Schnell ins Auto.«
Wir schälen uns aus unseren Schlafsäcken und laufen Richtung Parkplatz. Die ersten dicken Regentropfen landen in meinem Gesicht und auf meinen nackten Armen, als wir dort ankommen. Kai schließt auf und legt mit wenigen Griffen die Rückbank um. Wir klettern hinein und strecken unsere Beine im Inneren aus. Kaum haben wir die Türen geschlossen, prasselt der Regen wild aufs Dach. »Bei dem Wetter wären wir in meinem Zelt hoffnungslos ertrunken.« Kai lacht leise über meinen Kommentar.
Durch die Aufregung sind wir nun hellwach, an Schlaf ist nicht zu denken. Außerdem ist es viel zu eng und wir berühren uns. Es fühlt sich wahnsinnig schön an und als ich noch ein Stückchen näher zu ihm ruckle, schiebt er sogar einen Arm unter meinen Nacken. Ich wende mich ihm zu, dabei streift meine Nasenspitze unbeabsichtigt seine Wange. Es kratzt ein bisschen, aber die Haut darunter ist weich. Sehnsüchtig wiederhole ich die zarte Bewegung.
»Ich hatte noch nie einen Freund wie dich. Es ist so, als würden wir uns schon ewig kennen«, sagt er leise an meinem Ohr. Sein warmer Atem beschert mir eine Gänsehaut. Ich wage nicht zu antworten, stattdessen brumme ich zustimmend und lege zögernd meinen Arm über seinen Brustkorb. Sein Herz schlägt ganz schnell, so wie meines. Meine Lippen berühren beinahe sein Kinn, wenn ich nur ein bisschen näher rücke … Nur ein paar Zentimeter, dann wäre mein Mund auf seinem und ich könnte ihn küssen und ihn mit meiner Zunge erkunden. Ob er es zulassen würde? Unter meiner Bauchdecke flattert es und mir ist alles andere als kalt. Mein Blut sammelt sich in meiner Körpermitte, ich werde hart. Hoffentlich merkt er es nicht. Das wäre mir echt peinlich. Der Gedanke, ihn jetzt sofort küssen zu wollen, wird beinahe übermächtig. Aber ich wage es nicht. Ich habe Angst, dass er mich zurückweist, wenn er erkennt, was ich für ihn empfinde. Viel zu riskant.

Hintergrund: Wolfgang Eckert
Cover: J. Walther, MPower/Photocase

Erhältlich bei Amazon

Sein schönster Sommer