Leseprobe | Shahabi - Der gefallene Stern

aus der Anthologie: 24 Days of Queer@venthologie

 

Zum Inhalt: 

Was ist, wenn es dir verboten ist, den Menschen zu lieben, den du liebst? Was passiert, wenn es gesetzlich erlaubt ist, dich zu bestrafen oder gar zu töten, für das, was du bist? Hamid muss sich über Nacht von seinem Freund Naseem trennen und das Weite suchen. Dabei verliert er ihn aus den Augen und jeglicher Versuch Naseem zu finden, scheitert, bis Hamid eines Tages einen Zeitungsartikel in den Händen hält. Könnte er endlich eine Spur gefunden haben?

 

Leseprobe: 

Vorfreude prickelte in Hamid. Erfüllte ihn von den Zehen- bis in die Haarspitzen. Diese kurzen Momente der Zweisamkeit, die er sich mit Naseem stehlen konnte, wirkten wie eine Droge auf ihn. Sie hielten ihn über Wasser, bis zu ihrem nächsten heimlichen Rendezvous. Vorsichtig löste er sich aus dem Schatten des Mauerwinkels und warf einen flüchtigen Blick um die Ecke. Die Hitze flimmerte über dem kargen, sandigen Boden und noch war niemand vorn an der Straße zu sehen. Gleich würde Naseem dort auftauchen und sie würden ihren Hunger stillen können. Entdeckt zu werden, konnte tödlich für sie enden und trotzdem war es unmöglich, voneinander zu lassen. Zur Vorfreude gesellte sich Erregung. Ihr letztes Treffen war kaum zwei Tage her, aber sie brauchten sich gegenseitig. Je mehr Hamid von sich hergab, desto dringender schien dieses Bedürfnis nach Naseems Nähe zu werden. Liebe glich tatsächlich einem unauslöschlichen Feuer. Der Gedanke erschreckte und beseelte ihn gleichermaßen. Liebe …

»Hamid!« Die panische Stimme seines Freundes ließ ihn herumfahren. Naseem kaum auf ihn zugelaufen und einen Sekundenbruchteil zu lang starrte er in sein Gesicht. Glaubte, sich in den fast schwarzen Augen zu verlieren, die ihm in all ihren Facetten bekannt waren, ihm Einblick in eine Tiefe gewährten, wie er diese bei keinem anderen jemals erlebt hatte. Glück, Trauer, Lust, Zorn … und Angst. Letzteres war gerade die vorherrschende Emotion und katapultierte Hamid damit unsanft in die Gegenwart. »Laaauf! Lauf um dein Leben! Ali … Er … Sie wissen Bescheid!«

Kaum hatte Naseem die Worte geschrien, hörte er schon ihre boshaften Rufe und entdeckte, wie sie hinter Naseem auf das umzäunte Gelände stürmten. Sand wirbelte auf, umhüllte die Männer. Ihr Hass strahlte ihm wie glühende Kohlen entgegen und angesichts ihrer kompromisslosen Wut stolperte er zurück, blieb dabei mit seinem rechten Schuh an einem Stein hängen. Er wäre hingefallen, wenn ihn Naseem in diesem Moment nicht am Arm gepackt hätte. »Hamid! Wir … Lauf!« Tränen liefen über Naseems verschmutzte Wangen. Hamid wollte danach greifen, ihm über die Haut streichen und ihm versichern, dass alles gut werden würde. Stattdessen wandte er sich um und tat wie sein Freund geheißen; kletterte zügig den Steinhaufen hinauf, um zum Zaun zu gelangen. Der Kies gab immer wieder nach, drang in seine Schuhe ein und machte die Flucht schwierig. Er wusste, wenn er nicht schnell genug war, würde es vorbei sein. Das Grölen wurde lauter. Der erste Stein flog, verfehlte nur knapp sein Ohr. Jedoch konnte er den Luftzug spüren und das leise Zischen hören. Naseems Schmerzensschrei füllte seine Sinne, verriet ihm, dass dieser getroffen war.

Unbändiger Zorn breitete sich in ihm aus, Energie packte ihn und ließ ihn endlich …

 

… aufwachen. Seine Lider flatterten, kratzten über den Stoff des Kopfkissens. Beklommen löste er seine verkrampften Fäuste und drehte sich schweißgebadet auf den Rücken. Sein Herz pumpte wie verrückt gegen seine Rippen und nur langsam beruhigte sich sein Puls. Das Grauen des Traumes verließ ihn mit jedem Atemzug ein Stückchen mehr, stattdessen machte sich das gewohnte Gefühl des Verlustes in ihm breit. Naseem … sein Asisam – sein Geliebter … Hamid rieb sich mit seinen Händen über das Gesicht, ein verzweifelter Versuch, die Erinnerung an jenen entsetzlichen Tag nur für einen Moment aus seinem Gedächtnis zu wischen. Drei Jahre, drei Monate und eine Woche waren seit dem Vorfall vergangen. 1193 Tage um genau zu sein. Genauso lang hatte er nichts mehr von seinem Freund gehört. Und dennoch oder gerade deswegen durchlebte er die furchtbaren Stunden immer wieder in einer Intensität, als wäre es erst gestern passiert. Mit zitternden Knien stand er auf und schritt zum Vorhang, schob diesen zur Seite und starrte mit leerem Blick in die Dunkelheit. Die Straßenlaterne beleuchtete nur spärlich die winterliche Landschaft, die sich einem bedrückenden Gemälde gleich vor ihm erstreckte. Hatten ihn zu Anfang der Schnee und die damit verbundene, ungewohnte Kälte noch fasziniert, legte sich nun bei dem Anblick Heimweh über sein Herz. Niemals mehr konnte er in sein Vaterland zurückkehren. Niemals! Die Sehnsucht nach Vertrautem schien jedoch jeden Tag zu wachsen. Alles hier war so fremd: das Essen, die Gerüche, die Musik, die Leute selbst. Für immer war er verbannt in ein Land, dessen Sprache hart und unmelodisch klang und dessen Bewohner ihn nicht wollten. Flüchtling. Dieses Wort haftete wie Schmutz an ihm, machte ihn zu einem Menschen zweiter Klasse. Als ob er sich seine Situation ausgesucht hätte!

Wenn zumindest Naseem an seiner Seite wäre. Doch alles, was ihm von seinem Freund noch geblieben war, waren Träume und Erinnerungen. Wie ein gefallener Stern erlosch, so starb auch Hamids Hoffnung stetig, Naseem könnte noch am Leben sein.