Leseprobe | Das Weihnachtswunder

aus der Anthologie:

Cold: XXL Gay Romance Anthologie – 25 Winter-/Weihnachtsgeschichten

 

Zum Inhalt: 

In eine Art ›Vorweihnachtsdepression‹ gefallen, beendet Joe seine Beziehung zu Matthis. Gefangen zwischen wirren Träumen, die sich wie eine andere Wirklichkeit anfühlen, und der Realität ohne Matthis, taucht Joe nach und nach langsam aus seiner negativen Stimmung auf und lernt Weihnachten aus einem ganz anderen Blickwinkel kennen.

Leseprobe: 

Mit einem Ruck erwachte Joe und riss die Augen auf. Er war schweißgebadet. Was für eine Scheiße. Wie konnte er nur so ein Wirrwarr träumen. »Matthis?« Er drehte sich zu seinem Freund um, musste ihm unbedingt berichten, welche Absurditäten er gerade in seiner Fantasie erlebt hatte.

Doch die andere Seite des Bettes war leer, nicht einmal mehr schlafwarm, stellte er fest, als er mit der Hand über das Laken fuhr. »Matthis?«, rief er noch mal lauter in die Wohnung hinein, doch er erhielt keine Antwort.

Sein Herz klopfte schnell, beruhigte sich kaum. Der Traum war noch so präsent, dass er das Gefühl hatte, den Geruch dieser Hütte nach wie vor wahrnehmen zu können, immer noch die Hand des Mädchens auf seinem Oberschenkel zu spüren. Ebenso real und in Bruchstücken tauchte der gestrige Abend in seinem Gedächtnis auf. Matthis ... was war er doch für ein Arsch gewesen! Ihre dreijährige Beziehung nur einen Atemzug nach ihrer letzten Vereinigung in den Wind zu schießen, war selbst für Joe eine Meisterleistung. Scham und sein schlechtes Gewissen erdrückten ihn. Aber wie hätte er es sonst sagen sollen? Gab es einen liebevollen Weg eine Beziehung zu beenden?

Joe schlug die Decke zurück. Alles Grübeln half nichts. Er brauchte dringend eine Dusche und eine Tasse Kaffee. Müde schlurfte er durch die Wohnung, warf einen Blick in jeden Raum. Matthis war tatsächlich weg und das nicht nur mal eben kurz, denn seine Zahnbürste im Bad war auch verschwunden. Die letzte Bestätigung fand Joe auf dem Küchentisch. ›Meine restlichen Sachen hole ich in den nächsten Tagen, wenn ich mich neu orientiert habe.‹ Die nüchterne Art der Notiz fraß sich in Joe hinein. Das klang so fremd, so gar nicht nach seinem Matthis, der immer für alles und jeden nette Worte gefunden hatte. Überschwänglich von Koseworten Gebrauch gemacht hatte.

Joe ließ sich schwerfällig auf dem Küchenstuhl nieder, sah Matthis vor sich, der ihm lachend einen Becher dampfenden Kaffee hinstellte und sich dann mit einer Tasse Kräutertee zu ihm gesellte. Sein Blick fiel auf den Adventskranz in der Mitte des Tisches. Noch unberührt schmückte er den Raum, keine einzige Kerze war bisher entzündet worden. Jedoch war genau der Kranz Zentrum ihres letzten Streits gewesen, an den Joe sich nun ungern zurückerinnerte. Sein schlechtes Gewissen weiter anfachte, bis es ihn beinahe körperlich schmerzte. Matthis hatte die Dekoration vor ein paar Tagen voller Begeisterung angeschleppt. »Endlich wieder Weihnachten.«, hatte er ausgerufen und den Kranz ausgepackt.

Joe hatte einen ärgerlichen Blick darauf geworfen. »Du weißt, wie sehr ich das hasse, diesen ganzen Weihnachtsfirlefanz!« »Und du weißt, wie sehr ich das alles liebe«, hatte Matthis ungerührt gekontert. »Komm schon, Babe, genieß doch endlich mal die schöne Seite des Winters – und das ist nun mal Weihnachten.«

Babe? Ernsthaft! Er konnte es nicht leiden, wenn Matthis ihn so nannte. »Für mich ist es das Schönste, wenn der Weihnachtsscheiß vorbei ist und man sich endlich der Kälte und Dunkelheit hingeben kann. Diesen ganzen Kitsch braucht doch echt kein Mensch!«

»Hm, immer so negativ, Brummbär. Ich widerspreche dir. Viele Leute brauchen das.« Matthis war auf einmal ernst geworden, hatte ihn vorwurfsvoll angesehen. »Siehst du nicht, dass ich es brauche? Alle Jahre wieder ist es ein Hoffnungsschimmer für mich – auf etwas Besseres oder Größeres da draußen. Es ist für mich die schönste Zeit im Jahr. Lässt du mir dieses Gefühl? Bitte?«

Joe hatte seinen bitteren Kommentar runtergeschluckt: Dass sich Matthis seine Fantasien aus dem Kopf schlagen sollte, dass es da draußen nichts Besseres und Größeres gab. Jeder kämpfte letztendlich für sich selbst, auch wenn viele versuchten, ihr Dasein sinnvoll zu gestalten. Am Ende führte so-wieso alles ins große Nichts. Wozu sich also verrückten Traditionen hingeben?

Matthis hatte mit einem Lied auf den Lippen die Wohnung liebevoll weiterdekoriert und er hatte die Zähne zusammengebissen und sich hinter seinem Buch verkrochen. Alle Jahre wieder die gleiche Diskussion.

Joe griff nach den Streichhölzern, die neben dem Kranz bereitlagen und zündete eine Kerze an, starrte in die Flammen und konnte nicht glauben, welche Bösartigkeit ihn gestern geritten hatte, Matthis in seiner Lieblingsjahreszeit auf die Straße zu setzen. Er gratulierte sich selbst zu seinem lausigen Timing – denn heute war der erste Advent.

Nachdem er einen Kaffee getrunken hatte, schlurfte er ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Es war, als konnte er den Vollbart aus dem Traum immer noch fühlen. Matthis hatte ihn wiederholt an-gebettelt, sich doch einmal einen Bart wachsen zu lassen. Doch er war ein Gewohnheitstier, hatte diese Bitte kategorisch abgelehnt. Wie ein Uhrwerk rasierte er sich alle zwei Tage, da hatte sein Freund kein Mitspracherecht. Joe putzte sich die Zähne und konnte nicht glauben, dass dieses müde Gesicht, welches ihm aus dem Spiegel entgegenschaute, zu ihm gehörte. Wie alt er sich doch plötzlich fühlte. Dabei hätte er erleichtert sein sollen, dass Matthis verschwunden war. War es nicht das gewesen, was er wollte? Warum war er nun so ruhelos? Er verstand es nicht. Während er den Mund aus-spülte, beschloss er, seine Gewohnheit zu durchbrechen und die Rasur bis auf Weiteres sausen zu lassen.

Aus Sonntag wurde Montag. Ereignislos flossen die Tage ineinander. Wie immer zeigte sich die Jahres-zeit kalt und dunkel. Es schneite, taute aber gleich wieder weg.

Joes Dreitagebart wurde länger, fing an zu jucken, aber er verkniff sich, das Messer anzusetzen, zu neugierig war er inzwischen auf das Resultat.

Matthis ließ nichts von sich hören. Ebenso hatte er seine Sachen nach wie vor nicht aus der Wohnung geholt. Obwohl Joe angespannt auf eine Nachricht wartete und das Handy zur Sicherheit sogar nachts neben sich liegen hatte. Doch er selbst war zu stolz, sich bei Matthis zu melden. Was hätte er ihm denn schreiben sollen? Auch hing der merkwürde Traum Joe noch tagelang nach, beschäftigte ihn. Das Ganze hatte sich echt angefühlt. So, als wenn er für einen Moment tatsächlich woanders gewesen war. Er konnte sich keinen Reim daraus machen.

Am Samstag beschloss Joe auszugehen. Langsam, aber sicher fiel ihm die Decke auf den Kopf. Abend für Abend allein in der düsteren Wohnung zu sitzen, war ein deprimierendes Gefühl. Von Fertignahrung hatte er ebenfalls genug. Matthis hatte gut und gern gekocht und Joe hatte sich ebenso gut und gern von ihm bedienen lassen. Das war nun vorbei. Und Joe begann es zu vermissen. Wie die vielen anderen kleinen Dinge, die er gar nicht mehr wahrgenommen hatte, weil sie alltäglich geworden waren und er nun wieder allein verrichten musste. Joe begann Matthis zu vermissen.