Kleine Schreibprojekte | Das Karussell des Lebens
Tag für Tag drehe ich mich. Immer im Kreis. Mache Kinder glücklich. Höre ihr Lachen. Spüre ihre Fersen in meiner Seite. Jahr um Jahr. Die Musik aus den Lautsprechern ist immer die gleiche. Langsam blättert die Farbe an mir ab, mein Lack ist erblasst. Meinen Kameraden geht es ähnlich. Unsere anfängliche Begeisterung über unsere Arbeit hat sich in Luft aufgelöst. Wir trotten dahin, beziehungsweise wir drehen uns. Im Kreis. Und würden gerne ausbrechen aus dem mundanen Alltag. Doch es gibt kein Entrinnen. Wenn einer von uns schlappmacht kommt unser Besitzer und macht uns wieder hübsch. Nur Fred – der schräg drei Reihen vor mir stand. Mit seinem schwarzen Punkt am Hintern neben dem Schweif. Der Punkt, den ich Tag für Tag und Jahr um Jahr bewundern durfte. Fred ist nicht mehr. Eines Tages kam der Besitzer und hat Fred mitgenommen. Fred wollte uns zum Abschied zuwinken. Seine Augen haben uns aber nur müde zugeblinzelt. »Lebt wohl Kameraden«, schienen sie zu sagen, bevor er sie geschlossen hat. Seitdem ist es komisch dort hinzusehen. Da wo der schwarze Punkt auf Freds Hintern war, ist jetzt einfach eine Lücke in unseren Reihen. Und kein Fred mehr. Und wir drehen uns weiter und weiter und weiter.
Eines Tages passierte jedoch etwas. Wie gesagt, ich fühlte mich alt und müde. Der Besitzer war schon lange nicht mehr gekommen, um uns zu reparieren. Ebenso lange schon hatten wir uns nicht mehr gedreht. Wir verwitterten vor uns hin.
Frühling, Sommer, Herbst, Winter vergingen. Und noch einmal und noch einmal. Bis sich eines Tages doch etwas tat: Es kamen fremde Leute in blauen Anzügen und fingen an, uns auseinandernehmen. Nach und nach sah ich wie meine Kameraden abgeschraubt wurden. Erst erfüllte mich Aufregung aber je näher die Männer in blauen Anzügen sich zu mir bewegten, desto unheimlicher wurde mir das Ganze. Meine anfängliche Euphorie aus dem Einerlei auszubrechen, wich Panik, was wohl mit mir passieren würde. Würde ich wie Fred davongetragen werden? Getrennt von den anderen? Würde ich entsorgt werden, weil meine Farbe abblätterte und ich alt war? Und müde? Als ich schließlich demontiert wurde und sich die Welt plötzlich seitwärts drehte, war ich mir nicht mehr so sicher, ob das mundane Jahr und Jahr und Tag für Tag nicht doch etwas gewesen war, was ich weiterhin so wollte. Aber nun war es zu spät. Es war vorbei. Und die Angst vor Neuem überwiegte der Aufregung. Wir wurden in einen großen Lastwagen verladen. Zumindest waren meine Kameraden um mich herum, als sich die Plane um uns senkte und wir entsetzt im Dunklen murmelten, was wohl mit uns passieren würde.
»Wir werden alle sterben«, meinte Lazarus. Er war eindeutig der Pessimist unter uns. Schon immer und ich war froh, dass er auf der anderen Seite des Karussells montiert gewesen war. So musste ich immer nur seine Stimme hören, beziehungsweise den Ärger der anderen Kameraden, wenn er mal wieder einen seiner unglaublich depressiven Sprüche losgelassen hatte. Als der Lastwagen zu stehen kam, nach vielen, vielen Stunden Fahrt wurde die Plane gelüftet. Wir wurden nach und nach heruntergehoben und in eine Halle gestellt. Ich bekam einen neuen Anstrich. Und dann wurden wir aufgebaut. In einem riesigen Garten. Einem Park wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Voll bunter Blumen und wunderbar alten, knorrigen Bäumen.
Und das war der Moment als ich sie sah: Die Prinzessin. Sie war bildschön. Trug eine goldene Krone und hatte ein Schwert in der Hand. Wohl aus Holz, wie mir schien, denn die Prinzessin war noch sehr klein. Ein Kind. Sie rannte begeistert auf uns zu. Jauchzte und ihr Haar schimmerte golden in der Sonne. Nie hatte ich etwas Schöneres gesehen. Und als sie vor mir zu stehen kam, grinste sie mich an und ihre blauen Augen blitzten. Sie fuhr mit ihrer freien Hand über meine Mähne und drückte mir einen Kuss zwischen die Augen.
»Du bist wunderschön.«, flüsterte sie.
Und mein Herz hüpfte. Dann setzte sie sich auf mich drauf. Die Musik aus dem Lautsprecher ertönte. Und ich drehte und drehte und drehte mich, mit ihr auf dem Rücken. So wie ich es kannte. Ich wollte es besser machen, immer weiter und schöner. Ich fühlte mich wie neu geboren. Wie ein Küken, das gerade geschlüpft war. Eine neue Chance. Hier im Garten der kleinen Prinzessin.
Es gab keine Sprünge mehr in meinem Lack. Vorher hatten meine Kameraden und ich ausgesehen, wie eine Eierschale, die kurz vor dem Zerbrechen war. Nun erstrahlten wir im neuen Glanz. Makellos. Selbst Lazarus war positiv, was uns alle überraschte. »Die Prinzessin ist lieb«, sagte er und versetzte uns damit alle in Staunen. Und so hatten wir wieder eine Aufgabe, Tag um Tag, Jahr um Jahr. Die Prinzessin spielte oft allein mit uns. Selten hatte sie Freunde zu Besuch. Wir kämpften mit ihr gegen imaginäre Drachen und Ritter, manchmal auch gegen Riesenschlangen. Natürlich gingen wir immer als Sieger hervor.
Und immer wieder kam sie zu mir, flüsterte mir »Du bist wunderschön!« ins Ohr, um mich dann zu küssen. Und ich wusste, dass ich es war. Und für die Prinzessin für immer sein wollte. Ich achtete auf mich, so gut ich konnte. Schonte meine alten Knochen, kümmerte mich darum, dass meine Haut makellos blieb. Ließ mich bereitwillig immer wieder übermalen, wenn doch irgendwann eine kleine Problemzone auftauchte.
Die Prinzessin wurde größer und größer. Sie verlor ihre kindlichen Pausbäckchen, ebenso wie ihre Holzschwerter. Stattdessen kam sie nun oftmals mit einem Buch und einem Stift. Setze sich zwischen uns, klappte eben dieses Büchlein auf und schrieb. Und schrieb und schrieb.
Manchmal starrte sie träumend in die Leere, bevor sie sich zu mir wendete und mir zuflüsterte »Du bist immer noch wunderschön.«
Zu gerne hätte ich ihr geantwortet: »Ich liebe dich.« Denn das tat ich wirklich! Ich liebte sie.
Eines Tages kam die Prinzessin und weinte bitterlich. Sie versteckte sich an meiner Seite. Drückte ihre tränenfeuchten Wangen an mich. »Mein Herz tut so weh«, flüsterte sie. Zu gerne hätte ich gewusst, was ihr Problem war. Zu gerne hätte ich ihre Tränen in einem Beutel gesammelt. Denn selbst ihre Tränen waren kostbar für mich. Und ich fand, eine Prinzessin sollte nicht weinen müssen. Niemals!
»Ich werde von hier fortgehen«, erklärte sie plötzlich weiter. »Mein Vater sagt, wir müssen fliehen. Wir sind hier nicht mehr erwünscht.«
Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Wie konnte jemand die Prinzessin nicht mögen? Wie konnte sie jemand in die Flucht schlagen wollen? Das klang schlimm. Schlimmer noch aber war der Gedanke für mich, dass ich zurückbleiben würde. Die Prinzessin konnte mich schlecht in einen Sack packen und mit einem Stab über ihr Schulter davontragen. Gerne hätte ich mich nun kleiner gemacht. Gerne hätte ich nun auch die Möglichkeit gehabt, nur einmal richtig mit ihr sprechen zu können. Doch so konnte ich ihr lediglich in meiner stummen Art Trost spenden. In meinem Dasein.
»Vergiss nie: Du bist wunderschön«, flüsterte sie mir noch einmal zu. Und dann verschwand sie. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich um sie geweint. Aber da waren keine Tränen. Und so fraß ich in stiller Trauer den Schmerz in mich hinein. Tag für Tag, Jahr um Jahr. Es machte mir nichts mehr aus, dass meine Haut Sprünge bekam, platzte wie eine Eierschale, die zu lange gekocht hatte. Ich fühlte mich alt und verbraucht und allein gelassen. Ich jammerte nicht. Lazarus tat dies zur Genüge für uns alle. Doch irgendwann verstummte auch er. Die Zahnräder der Zeit setzten uns zu. Ließen uns rosten und verwittern und den Park um uns verwildern. Spinnweben setzten sich zwischen uns fest, Vögel nisteten im Schutz unseres Daches. Und da war keine Prinzessin mehr und kein Kinderlachen und keine Fröhlichkeit. Wir waren in Vergessenheit geraten.
Ich wollte meine Augen für immer schließen und konnte es doch nicht. Ein Funken Hoffnung hielt mich am Leben, dass die Prinzessin vielleicht doch noch einmal vorbeikommen würde. Der Gedanke an ihre Liebe, die Sehnsucht nach ihrer Nähe ließ mich nicht sterben.
Und als ich eines Tages Schritte hörte und ein Kinderlachen, konnte ich es kaum glauben. Ein kleiner Junge patschte auf mein Maul und überrascht starrte ich ihn an. Neben ihm stand eine Frau mit weißem Haar und strahlend blauen Augen. Sie beugte sich zu mir und strich mir liebevoll über die Mähne. »Du bist immer noch wunderschön«, sagte sie und ihre Augen schimmerten, Tränen liefen über ihre Wangen.
Und da erkannte ich sie. Meine Prinzessin. Ihre Haut war faltig, die Zeichen der Zeit hatten auch ihr zugesetzt. Genau wie mir. Beide wussten wir, dass wir nicht mehr lange auf dieser Welt hatten. Dann würde es für uns vorbei sein. Aber wir hatten einander noch einmal gesehen. Und dieser Junge, dieses Kind an ihrer Seite würde neue Dinge entdecken, erschaffen und lieben. Es würde weitergehen und immer weiter. Auch ohne uns. Ich hatte geliebt und war geliebt worden. Und der Junge würde es wieder tun, lieben und geliebt werden. Bis auch er alt und grau war und die nächste Generation nach ihm kommen würde.
So war der Lauf des Lebens. Das Karussell. Hier war meine Möglichkeit auszubrechen und Abschied zu nehmen. Und das … Das war ein gutes Gefühl. Und mit dem Kinderlachen im Ohr schloss ich meine Augen. Für immer.
© Lena M. Brand; 2019